Um der Frage nachzugehen, wie sich rekonstruktive Schulforschung ihrem Gegenstand widmet und ihn erschließt, kommen in dieser Forschungswerkstatt praxistheoretische und objektiv-hermeneutische Ansätze zur Diskussion eines Falles zusammen. Geklärt werden soll, worauf die Ansätze wie und aus welchen Gründen fokussieren; dies nicht nur theoretisch, sondern auch durch die gemeinsame Arbeit am Material. So können die mit differenten Erkenntnisinteressen hervorgebrachten Thesen aufeinander bezogen und die Ansätze gut miteinander verglichen werden. Reflektiert werden soll, wie rekonstruktive Schulforschung zur erziehungswissenschaftlichen Aufklärung über diese zentrale Bildungsinstitution bereits beiträgt und was angesichts ihres Wandels noch zu leisten ist.
Als empirisches Datum dient die Website einer Schule, die sich selbst als „Die Schule der Zukunft“ bezeichnet (https://asw-wutoeschingen.de/). Die Selbstdarstellung einer Schule, die sich als Avantgarde sieht, in das Zentrum der Analyse zu rücken, verspricht die schulpraktische Transformationsanforderung in ihrer empirischen Widersprüchlichkeit zu rekonstruieren und zugleich die Spannung von Reformierungswillen und Beharrungstendenzen des Schulischen schultheoretisch zu bestimmen.
Das Format zeigt, wie rekonstruktive Schulforschung vom Material zur Theorie kommt, und fragt danach, in welchem Verhältnis dabei Theorie und Empirie stehen. Diskutiert werden soll nicht nur, welche Bedeutung der Empirie für die Theoriebildung zukommt, sondern auch, wie Theorie für empirische Forschung relevant wird.
Nach drei kurzen Impulsvorträgen, in denen die jeweilige Perspektive auf den Fall methodologisch und objekttheoretisch justiert und erste, analytisch gewonnene Hypothesen zu ihm darlegt werden, soll gemeinsam mit den Teilnehmenden an ausgewähltem Material des Falls analytisch gearbeitet werden (ca. 45 Min.). Die vorgestellten Perspektiven können so nachvollzogen, verglichen und in ihrem Ertrag beurteilt werden. In einer abschließenden Diskussion sollen – ausgehend vom besonderen Fall – allgemeine Fragen zum Verhältnis von Theorie und Empirie in der rekonstruktiven Schulforschung und der Gemeinsamkeiten und Differenzen ihrer Spielarten verhandelt werden (ca. 30 Min.).
(1) Schule lässt sich aus praktikentheoretischer Perspektive als Konstellation aus Bündeln von Praktiken und Arrangements verstehen, die in vielfacher Weise zu gesellschaftlichen Praktiken relationiert ist. Diese Relation ist schulischerseits durch ihren pädagogischen Charakter in eigentümlicher Weise konturiert und kein (uni)direktionales Ableitungsverhältnis (Idel et al. 2013). In routinisierten Choreographien drücken sich Tradierung und Transformation als stabilisierende Aspekte aus (Budde/Eckermann 2021). Versuche der Profilierung als ‚Schule der Zukunft‘ unterschlagen zum einen, dass Tradierung und Transformation wesentliche Elemente der praktischen Organisation von Schule darstellen. Zum anderen wird ein statisches Gesellschaftsverständnis zementiert. Der Beitrag argumentiert dafür, Relationen zwischen Transformation und Tradierung sowie zwischen Schule und Gesellschaft als ‚dynamische Stabilisierung‘ zu verstehen, welche durch eine Geste der Kritik Machtverhältnisse re/konstruiert (Boltanski/Chiapello 2005).
(2) Die immanenten Widersprüche pädagogischen Handelns, die ein zentraler Dauerbefund strukturrekonstruktiver Schul- und Professionstheorie sind (Helsper 1996, 2004; Wernet 2003, 2008), lassen sich nicht auf eine Spannung in dem Sinne reduzieren, dass gute pädagogische Ideen und Motive an den Unzulänglichkeiten der gesellschaftlichen und schulisch-institutionalisierten Realität scheitern (Rademacher/Wernet 2015). Bereits die pädagogische Ideologie selbst ist durchzogen von Widersprüchen. Anhand der Selbstdarstellung der sich als „Schule der Zukunft“ bezeichnenden Gemeinschaftsschule soll in diesem Beitrag die widersprüchliche Eigenlogik pädagogischer Transformationsversprechen mittels objektiv-hermeneutischer Analysen der Schulhomepage herausgearbeitet und verstehbar gemacht werden.
(3) Ausgehend von einer pädagogischen Modellierung der Eigenlogik schulischer Praxis als widersprüchlicher (Gruschka 2013) wird empirisch zu bestimmen versucht, wie eine Schule emanzipatorische Ansprüche erhebt und zugleich unterbietet und wie dies mit der institutionellen Rahmung in Zusammenhang steht. Zentral ist dabei die Bearbeitung des Widerspruchs von „Fördern und Auslesen“, der versprochenen sozialen Allgemeinheit der Bildung und der Selektion der Schule. Die der Schulhomepage eingeschriebenen Deutungsmuster von Schule werden rekonstruktiv erschlossen und für schultheoretische Überlegungen fruchtbar gemacht (Hünig 2021). Methodologisch wird dabei die mit der Objektiven Hermeneutik (Oevermann 2002) in die empirische Sozialforschung eingebrachte Perspektive eines genetischen Strukturalismus genutzt, mit der auch Fragen des Wandels von Schule bearbeitbar erscheinen.