Für die praxistheoretische Forschung spielt die Frage, wie Unterricht und Schule als komplexe Gefüge von Praktiken gefasst und forschungspraktisch in den Blick genommen werden können, derzeit eine zentrale Rolle. Die Grenzziehung in der Bestimmung von Unterricht (bzw. Schule) als ein in situ zu beobachtendes soziales Geschehen sui generis im Unterschied zu seinem ‚Außen’ hat sich für die qualitative Unterrichts- (und analog die Schul-)forschung in den letzten 20 Jahren zwar als äußerst produktiv erwiesen. Aus praxistheoretischer Perspektive ist sie jedoch als eine der Forschung vorangestellte Setzung in Frage zu stellen.
Ansätze einer transsituativen Unterrichtsforschung, in welcher Unterricht in der zeitlichen Perspektive als ein sich über Situationen im, vor und nach dem Unterricht hinweg erstreckendes soziales Geschehen verstanden wird, liegen vor (vgl. z. B. Lange & Wiesemann 2019; Röhl 2015). Weitere Studien suchen, der Komplexität von Schule gerecht zu werden, indem sie u. a. Verknüpfungen und Interferenzen stärker berücksichtigen (vgl. z. B. Kelle 2015). Die theoretischen und methodologischen Möglichkeiten praxistheoretischer Forschung scheinen uns damit jedoch noch nicht ausgeschöpft. Vielmehr geben sich derzeit entwickelnde Fragestellungen zu Transformationen von Unterricht und Schule Anlass, über eine Dezentrierung des Unterrichtsbegriffs der Unterrichtsforschung ebenso wie über eine Öffnung der theoretischen Perspektiven auf Schule und ihre möglichen Grenzen (neu) nachzudenken und die Herausforderungen zu reflektieren, die sich aus dem Einbezug weiterer Akteure und Schauplätze in die ethnografische Forschung ergeben.
In der Arbeitsgruppe sollen ausgehend von einem für alle vier Beiträge geltenden Problemaufriss theoretisch-empirische Skizzen aus vier Projekten diskutiert werden, welche die aufgerufene Frage auf verschiedene Weise beantworten. Mit den Beiträgen der AG soll übergreifend das Potential von (Neu-)Justierungen von Grenzziehungen zwischen Schule, Unterricht und ‚einem Außen‘ für die Theoriebildung in der Unterrichts- und Schulforschung diskutiert werden.
In Beitrag 1 knüpfen die Autor:innen an Schatzkis Ausführungen zur Praxistheorie als flacher Ontologie (Schatzki 2016) und einem Verständnis von Schule als Konstellation von Praktiken an, um den komplexen Relationierungen von Schule, Unterricht und Bildungsadministration nachzugehen, die in der Arbeit mit einem an Partizipation orientierten Schulentwicklungsinstrument hervorgebracht werden. Die Metapher der Interferenz bzw. eine Idee „interferierender Praktiken“ (Breidenstein 2021, 934) dient als Bezugspunkt für die Analyse ethnographischer Beobachtungen von Schulentwicklungsgesprächen aus einem Forschungsprojekt zu ‚Aushandlungen von Schulqualität‘. Im Vortrag werden Analyseergebnisse präsentiert und hinsichtlich ihrer schultheoretischen Implikationen diskutiert.
In Beitrag 2 fragen die Autor:innen, welche Neujustierungen am Begriff Unterricht notwendig sind, um den digitalitätsvermittelten Transformationen von Unterricht theoretisch wie empirisch gerecht zu werden. Bildungsmedien und digitale Anwendungen/Geräte sind in Schule und Unterricht nicht nur präsent, sie nehmen auch Einfluss auf Vorstellungen, wie Unterricht zu machen ist. Um Konstellationen und Zusammenspiel von auf Unterricht bezogenen Praktiken vor, nach und neben dem Unterricht mit Praktiken im Unterricht untersuchbar zu machen, schärft der Vortrag Eckpunkte einer Methodologie der Relationierung. Angeschlossen wird an den Begriff von Praktiken als „normativer Verweisungszusammenhang“ (Wagenknecht 2020), dessen analytische Produktivität an Beobachtungs- und Interviewdaten gezeigt werden soll.
Die Autor:innen des Beitrags 3 knüpfen an die in Beitrag 2 aufgegriffene normative Konzeption von Praktiken an (Rouse 2007) und entwerfen Unterricht als ein spezifisches, historisch gewordenes, situiert vollzogenes Ver-Antwortungsgeschehen. So wird zum einen argumentiert, dass Praktiken durch den sequenziellen Vollzug von Performances entstehen, die sich (potenziell) als ‚richtige‘ Anschlüsse ver-antworten müssen. Zum anderen wird – auch im Anschluss an Schatzkis (2016) Konzept der Teleoaffektivität – diskutiert, was im Unterricht als „common stake“ (Rouse 2007, 53) für die Teilnehmenden auf dem Spiel steht.
In Beitrag 4 wird explorativ an Material aus einem Forschungsprojekt zur Schulklasse die These entfaltet, dass neue Wege der Schulforschung darin liegen könnten, die eingewöhnten Grenzziehungen und insofern die Gegenüberstellung zwischen forschender und beforschter Praxis infragezustellen. Im Anschluss an Barads (2007) agentiellen Realismus und Latours (2004) Verständnisses eines Lernens, affiziert zu werden wird die Möglichkeit eines affektiv involvierten Forschens exploriert, innerhalb dessen Forschende und ihre Gegenstände in spezifischer Relationierung zueinander gedacht und insofern nicht nur als abhängig voneinander, sondern als sich gegenseitig herstellend verstanden werden.