Migration im Wandel: Flucht, Bleiben, (Im-)Mobilität
Radostin Kaloianov
Universität Hamburg, Österreich
Globale Migration durchläuft gegenwärtig einen vielspurigen Wandel. In den letzten Jahrzehnten gewinnt die postkoloniale Fluchtmigration deutlich die Oberhand über die für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts charakteristische Arbeitsmigration (UNHCR 2023: 7). Im 19. und 20. Jahrhundert, im Zeitalter des kolonialen Kapitalismus, fand internationale Migration hauptsächlich als „Arbeitsmigration und Siedlermigration“ (Castles 2010: 1567) statt. In der Nachkriegszeit geriet durch die sogenannte „Gastarbeitermigration“ nach Deutschland, Österreich und anderen westeuropäischen Zielländern die Arbeitsmigration verstärkt ins Visier der akademischen Forschung (Castles/Miller 1998). Seit den 1990er Jahren werden die Arbeitsmigration und Siedlermigration, die das sogenannte „Migrationszeitalter“ („age of migration“, ebd.) prägen, immer mehr durch die „gemischten und massenhaften Bevölkerungsströme“ („mixed and mass population flows“) von Fluchtmigrant*innen abgelöst, die sich zwischen dem globalen Süden und dem globalen Norden bewegen und damit das „postkoloniale Migrationszeitalter“ („postcolonial age of migration“, Samaddar 2020) einläuten.
Dieser Wandel verändert die Migrationsthematik inhaltlich. Der Fokus verschiebt sich von Mobilität hin zum Bleiben. Das Bleiben, also das Nicht-Abgeschoben-Werden, hat im Prozess der Fluchtmigration oberste Priorität. Diese Priorisierung von Themen des Bleibens und Ankommens wird gegenwärtig in der deutschsprachigen Migrationsforschung durch das zunehmende Interesse an der Erforschung von ‚Postmigration‘ oder der Migration „nach der Migration“ (Yıldız & Hill 2014) belegt. Das Bleiben ragt über alle sonstigen Schritte und Zielmarken des Ankunftsverlaufs postkolonialer Fluchtmigrant*innen heraus und stellt insbesondere Arbeit und Integration in den Schatten, die für den Bleibeverlauf in Zeiten von überwiegender (Gast-)Arbeitsmigration eine imperative Bedeutung hatten.
Mobilität weicht dem Bleiben als Fokus des Konzepts und Phänomens der Migration auch aus einem weiteren Grund. Im Kontext postkolonialer Fluchtmigration wird Mobilität permanent und systematisch durch die „proliferation and transformation of borders“ (Mezzadra/Neilson 2013: 6) und die Vorkehrungen vom restriktiven Migrationsmanagement (vgl. Georgi 2019) gebrochen. Das Brechen von Mobilität kehrt die Bedeutung und den Effekt von postkolonialer Fluchtmobilität ins Gegenteil von Mobilität um und versetzt sie in die Paradoxie, eine Mobilität zu sein, die Menschen immobil macht und Menschen umso mehr immobilisiert, je länger sie anhält.
Literatur:
Castles, Stephen (2010): Understanding Global Migration: A Social Transformation Perspective. In: Journal of Ethnic and Migration Studies 36 (10). 1565-1586.
Castles, Stephen / Miller, Mark (1998): The Age of Migration. International Population Movements in the Modern World. London.
Georgi, Fabian (2019): Toward Fortress Capitalism: The Restrictive Transformation of Migration and Border Regimes as a Reaction to the Capitalist Multi-Crisis. In: Canadian Review of Sociology, 56 (4). 556-579.
Mezzadra, Sandro / Neilson, Brett (2013): Border as Method, or, the Multiplication of Labor. Durham/London.
UNHCR (2023): Global Trends. Forced Displacement in 2022. UNHCR, 14. 06. 2023
Samaddar, Ranabir (2020): The Postcolonial Age of Migration. New York.
Yıldız, Erol / Hill, Marc (2014): Nach der Migration. Postmigrantische Perspektiven jenseits der Parallelgesellschaft. Bielefeld.
Prekäre Privilegien: Polnische Flüchtlinge zwischen Polen, Österreich und Kanada in den langen achtziger Jahren
Daniel Jerke
Universität Wien, Österreich
Seit Februar 2022 wird in der Flucht- und Migrationsforschung darüber diskutiert, wie die Lage der ukrainischen Geflüchteten in der Europäischen Union beschrieben werden kann. Während die einen ihre rechtliche wie diskursive Bevorzugung gegenüber Geflüchteten aus dem Globalen Süden in den Vordergrund stellen (wie Dahinden Fluchtforschungsblog 2022), weisen andere auf damit einhergehenden Ambivalenzen hin (wie Şahin Mencütek Open Democracy 2022). Doch wie kommt diese Gleichzeitigkeit von Bevorzugung und Benachteiligung, die ich (in Anlehnung an Hausotter 2018) als prekäre Privilegien bezeichne, überhaupt zustande?
In meiner Dissertation, die ich seit zwei Jahren verfolge, gehe ich dieser Frage am Beispiel einer historischen Fluchtbewegung nach: Polnische Flüchtlinge, die von Mitte der siebziger bis Anfang der neunziger Jahre in den Westen kamen, wurden dort gegenüber den meisten anderen Gruppen von Migrant_innen bevorzugt, indem ihre grenzüberschreitende Mobilität lange Zeit als politisch motivierte Flucht gesehen wurde, weshalb sie gleichzeitig keine individuelle Verfolgung nachweisen mussten, um als Flüchtlinge auch rechtlich anerkannt zu werden. Doch ihre Privilegierung ging Hand in Hand mit einer Prekarisierung (angelehnt an Robertson/Roberts 2022): Einerseits war die Bevorzugung der polnischen Flüchtlinge relativ, denn sie befanden zunächst in einer günstigeren Position als die meisten Arbeitsmigrant_innen, aber genauso gab es andere Gruppen von Flüchtlingen, die noch besser gestellt waren. Andererseits war ihre Privilegierung fragil, weil sie von den Entscheidungen der jeweiligen Regierung abhing, auf welche die Flüchtlinge selbst nur schwer Einfluss nehmen konnten. Diese Abhängigkeit sollte sich am Ende der 1980er Jahren zunehmend als Malus für die Betroffenen erweisen, als die westlichen Gesellschaften immer weniger bereit waren, ihre Bevorzugung weiter aufrechtzuerhalten.
Die prekäre Privilegierung der polnischen Flüchtlinge war das Ergebnis genauso komplexer wie dynamischer Aushandlungsprozesse, die ich am Beispiel Österreichs und Kanadas rekonstruiere. Österreich war im Kalten Krieg eines der wichtigsten Transitländer für polnische Flüchtlinge, von dem aus viele versuchten, in Zielländer wie Kanada zu gelangen. An den grenzüberschreitenden Aushandlungsprozessen waren neben den Flüchtlingen selbst als primäre Akteure die verschiedenen staatlichen Instanzen der betroffenen Länder (sekundäre Akteure), aber auch Nichtregierungsorganisationen, Medien und die Wissenschaft (tertiäre Akteure) beteiligt (Wolff 2019). Um die Aushandlungen zwischen diesen verschiedenen Akteuren zu rekonstruieren, untersuche ich im Sinne einer Migrationsregime-Analyse (Rass/Wolff 2018) nicht nur Dokumente staatlicher Institutionen und nicht-staatlicher Organisationen, sondern auch Briefe, Medienberichte, Memoiren, Interviewmaterial sowie zeitgenössische Forschungsarbeiten. Dabei lege ich ein besonderes Augenmerk auf die Handlungsmacht der polnischen Flüchtlinge selbst, wobei ich im Sinne des Konzepts der polyphony (Gatrell/Ghoshal/Nowak/Dowdall 2021) sowohl auf die Vielfalt als auch die Ungleichheiten innerhalb dieser Gruppe eingehe. Insgesamt hat meine Dissertation zum Ziel, mit der Untersuchung der Aushandlungsprozessen einer bereits abgeschlossenen Fluchtbewegung eine neue Perspektive auf die Erforschung von Privilegierung im Kontext von Migration zu eröffnen.
Multiple Prekarität von Migrant:innen und erzwungene Akzeptanz prekärer Arbeit in der Paketlogistik in Österreich
Anita Heindlmaier, Johanna Neuhauser
Universität Wien, Österreich
Dieser Beitrag befasst sich mit den Wechselwirkungen zwischen prekärer Arbeit von Migrant:innen und Prekaritäten in weiteren Lebensbereichen, z.B. in Bezug auf Aufenthaltsstatus, Sozialleistungszugang oder Sprachkenntnisse. Wir sprechen in diesem Zusammenhang von multipler Prekarität – ein Begriff, der dafür sensibilisiert, dass zur Abwertung migrantischer Arbeit ein erweitertes Verständnis von Herrschaft und Kontrolle zentral ist, das zum Beispiel das Migrationsregime, den begrenzten Zugang zu öffentlichen Gütern sowie Leistungen und rassistische Segmentierungen des Wohnungsmarkts berücksichtigt (Birke/Neuhauser 2023). Gerade das Zusammenspiel von restriktiver Migrations- und Sozialpolitik erzeugt einen „Zwang zur Arbeit“ (Carstensen et al. 2018). Die erzwungene Akzeptanz von und „Loyalität“ (Hirschman 1970) zu prekären Arbeitsverhältnissen wirkt wiederum auf andere Lebensbereiche zurück. Beispielhaft werden wir diese Wechselwirkung unterschiedlicher Prekaritäten anhand unserer Forschung zur Paketlogistik aufzeigen.
Es sind gerade auch die Charakteristika der Jobs, die Migrant:innen ausüben, die es ihnen schließlich oftmals verunmöglichen, der multiprekären Lage zu entkommen. Vielmehr finden sich Betroffene häufig in einem Teufelskreis zwischen Phasen von prekärer Beschäftigung, Unterbeschäftigung und Arbeitslosigkeit, anders ausgedrückt von „no pay“ und „low pay“ (Alberti 2017). Beispielsweise führen instabile Beschäftigungsverhältnisse – wie in der Paketlogistik unsicherere Leiharbeit in Verteilzentren und Arbeit in Subunternehmen in der Zustellung – dazu, dass die nötigen Versicherungszeiten nicht erreicht werden, um Arbeitslosengeld zu bekommen, was den Druck, um jeden Preis wieder Arbeit zu finden, weiter erhöht.
Mangelnde Sprachkenntnisse oder schwierige Nostrifikationsprozesse wiederum führen insofern zu einer Exklusion am Arbeitsmarkt, als Migrant:innen häufig nur bestimmte prekäre Segmente des Arbeitsmarkts offenstehen. Die zunehmende Migrantisierung dieser prekären Segmente wiederum bedeutet, dass migrantische Beschäftigte kaum bis wenige deutschsprachige Kolleg:innen haben und somit am Arbeitsplatz ihre Sprachkenntnisse nicht weiter vertiefen können, was wiederum andere Arbeitsmöglichkeiten erschwert. Die Prekarität der Arbeit – beispielweise häufige Überstunden, ein hoher Arbeitsdruck und die körperlich anstrengende Tätigkeit mit teils schweren Paketen – wiederum verunmöglicht es Migrant:innen ferner oftmals, die Zeit und Energie aufzubringen, sich außerhalb der Arbeit zu qualifizieren. Weiters perpetuiert sich so auch eine Rekrutierungspraxis über ethnische Communities in diesen prekären Segmenten des Arbeitsmarkts.
Während also Integration vor allem über den Arbeitsmarkt gelingen soll, stehen Migrant:innen jedoch häufig paradoxerweise nur Jobs zur Verfügung, die wenige bis keine gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeiten bieten und vielmehr zu weiterer Isolation und Ausschluss führen.
Der Beitrag basiert auf 58 leitfadengestützten, problemzentrierten Interviews (Witzel 2000), darunter insbesondere auf 42 (Gruppen-)Interviews mit in der Paketlogistik (ehemals) Beschäftigten – sowohl in Verteilzentren als auch in der Zustellung. Daneben wurden 14 Expert:inneninterviews mit Vertreter:innen von Arbeitnehmer:innen- und Arbeitgeber:innenorganisationen sowie verschiedenen Kontrollbehörden, d. h. dem Arbeitsinspektorat, der Finanzpolizei und der Krankenkasse, sowie zwei Gruppeninterviews mit Unternehmensvertreter:innen (dem Management) von zwei großen Paketdienstleistern geführt. Die Auswertung der Interviews erfolgte größtenteils inhaltsanalytisch (Mayring 2015) und an ausgewählten, besonders dichten Passagen wurden Feinanalysen durchgeführt.
Skills-oriented migration in the Western Balkans: Linking workers' migration aspirations to skill shortages
Pascal Beckers1, Mahdi Ghodsi2, Ksenija Ivanović1, Sandra Leitner2, Friedrich Poeschel3, Alireza Sabouniha2
1Radboud University, Netherlands; 2wiiw, Austria; 3European University Institute, Italy
This paper examines the impact of labour shortages on migration aspirations and destination preferences among individuals from Albania, Bosnia and Herzegovina, and Serbia. Using a two-stage Heckman selection model, we analyse data from the OeNB Euro Survey and the World Bank’s STEP Measurement Program. The results indicate that labour shortages significantly influence migration decisions: individuals are more likely to aspire to migrate if there is a shortage of workers in their occupation in the aspired destination countries, while shortages in their home country reduce migration aspirations. These findings suggest that both origin and destination countries should consider labour market conditions when formulating migration policies. For destination countries, highlighting demand for specific skills can attract needed workers, while Western Balkan countries should address the education-labour market mismatch to mitigate local shortages. Policy co-ordination between regions is crucial to manage migration flows and address skill gaps without exacerbating local shortages.
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