Multiple Vernetzungen in den Didaktiken der Gesellschaftswissenschaften
Chair(s): Christian Mathis (Pädagogische Hochschule Zürich, Schweiz)
Diskutant:in(nen): Petra Bleisch (HEP/PH Fribourg), Petra Bleisch (HEP/PH Fribourg), Petra Bleisch (HEP/PH Fribourg)
Das Symposium setzt sich aus verschiedenen Mitgliedern der Forschungsgruppe «Didaktiken Gesellschaftswissenschaften» und dem «Netzwerk Fachdidaktik Religionen, Kulturen, Ethik» zusammen. Es legt einen besonderen Fokus auf die Vernetzung und den Austausch zwischen Fachdidaktiken, Fachwissenschaft, ausserschulischen Partner:innen und Schulen bzw. Lehrpersonen. Die Förderung der Vernetzung erfolgt durch empirische fachdidaktische Forschungsprojekte und durch die Organisation von Netzwerktreffen und Tagungen, die dem wissenschaftlichen Austausch und der Nachwuchsförderung dienen, sowie durch Entwicklungsprojekte, in denen Lehrmittel und digitale Lehr-Lernmaterialien erarbeitet, getestet und implementiert werden.
Im Symposium soll eine Diskussion angestossen und geführt werden, wo die Chancen und Herausforderungen der Vernetzungen zwischen den Fachdidaktiken der gesellschafts- und kulturwissenschaftlichen Fächer sowie Vertreter:innen unterschiedlicher ausserschulischer Anspruchsgruppen liegen.
Die drei Beiträge in diesem Symposium machen deutlich, wie wichtig die transdisziplinären Interaktionen von Schule, Hochschule und der Öffentlichkeit sind und welcher hohe Stellenwert dabei der Interdisziplinarität zukommt. Die vorgestellten Projekte zeigen erfolgreiche Vernetzungen zwischen unterschiedlichen Fachdidaktiken, zwischen Forschenden und Dozierenden von Universitäten und Pädagogischen Hochschulen über die Sprachgrenzen hinweg, sowie zwischen Fachexpert:innen aus NGOs und staatlichen Ämtern.
Beiträge des Symposiums
Das Lehrmittel "Ich entdecke Landschaften"
Karin Huser
Pädagogische Hochschule Zürich
Der erste Beitrag stellt das geographiedidaktische Projekt "Bilderbuch. Ich entdecke Landschaften", inkl. digitale Lehr-Lernmaterialien für die Primarstufe vor (www.landschaftswissen.ch / www.penser-le-paysage.ch). Dabei handelt es sich um ein Kooperationsprojekt der PHZH mit der HEP Vaud in Zusammenarbeit mit der Stiftung «éducation 21» sowie den Universitäten Zürich und Lausanne.
Die Geographiedidaktik insbesondere in der Grundschule setzt einen Schwerpunkt bei ganzheitlich vermittelten Mensch-Umwelt-Beziehungen (Integrated Studies, z. B. Kidman u. Schmeinck 2022). Deshalb sind Landschaftswandel bzw. nachhaltige Raumentwicklung als Studieninhalt im schweizerischen Lehrplan 21 sowie in der Lehrer:innenbildung ausgeschildert (Adamina et al. 2013, DGfG 2017). Auch Fachpersonen fordern ein «integrales Landschaftsverständnis» an Schulen und Hochschulen (Mathieu et al. 2016, 323). Studierende des Lehramts Primarstufe zeigen jedoch kurz vor Abschluss der Ausbildung ein unzureichendes fachliches und fachdidaktisches Raumverständnis. Ihre künftigen Schüler:innen lernen v.a. Räume zu betrachten im Sinne von Anschauen und Dinge zu verorten, jedoch weniger über die Zukunft oder Wechselwirkungen zwischen Menschen und Raum/Umwelt nachzudenken (Autorin et al. 2020; Autorin 2021), d.h. zukunfts- und partizipationsorientiertes sowie systemisches Denken werden vernachlässigt. Darüber hinaus gilt es, das zentrale Bildungsanliegen der Hinführung zu Mündigkeit im politisch bildenden Fachunterricht zu stärken (z. B. Pettig 2021). Erschwerend für die fachdidaktische Lehre erweist sich die knappe Ausbildungszeit sowie fehlende spezifische Lernmaterialien für die Primarschule (Autorin 2021).
Aufgrund dieser Erkenntnisse entwickelten Forschende der oben genannten Hochschulen unter Einbezug des Schulfeldes verschiedene Open Educational Resources. Der Beitrag stellt das entwickelte, zweisprachige Bilderbuch «Ich entdecke Landschaften», inkl. Lehr-Lernmaterialien für die Jahrgangsklassen 3-6 vor. Die fachdidaktische Qualitätssicherung erfolgt durch eine innovative Zusammenarbeit in Form von zweimaligen Rückmelderunden aus Praxis, Fachdidaktik und Fachwissenschaft. Es wird aufgezeigt, wie Komplexität am Beispiel nachhaltiger Raumentwicklung und des Politikzyklus für Lernende elementarisiert (Duit et al. 2012) und veranschaulicht wird sowie Lebensweltbezüge (Kalcsics u. Wilhelm 2017) hergestellt werden. Fokussiert wird im Beitrag der instrumentelle Ansatz von Nachhaltigkeitsbildung (BNE 1). Im Ausblick wird die Anwendung in der fachdidaktischen Ausbildung an einer Schweizer Pädagogischen Hochschule diskutiert sowie über das Potential interinstitutionell entwickelter Open Educational Resources nachgedacht.
Das rassismuskritische Lehrmittel "Jenische, Sinti, Roma. Zu wenig bekannte Minderheiten in der Schweiz"
Nicole Eilinger1, Sonja Vukmirović2, Christian Mathis2
1Pädagogische Hochschule Thurgau, 2Pädagogische Hochschule Zürich
Der zweite Beitrag stellt ein Entwicklungsprojekt aus der Fachdidaktik Natur, Mensch, Gesellschaft (NMG) vor. Dabei wurde das rassismuskritische Lehrmittel «Jenische, Sinti, Roma. Zu wenig bekannte Minderheiten in der Schweiz» in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgruppe «Jenische, Sinti, Roma» partizipativ entwickelt. Die Arbeitsgruppe setzte sich aus Vertreter:innen der drei Minderheit und Expert:innen aus NGOs zusammen. Dabei wurden auch Ergebnisse aus einem qualitativen Forschungsprojekt zu Vorstellungen von Schweizer Primarschüler:innen zur «fahrenden Lebensweise» (Wettstein, 2022) berücksichtigt. Wettstein (2022) konnte zeigen, dass Schüler:innen die Lebensweise der Reisenden als anders erachten und sie dabei zu Fremden konstruieren (bzgl. Sprache, Herkunft usw.). Die Schüler:innen sehen in der Lebensweise der Reisenden eine Reaktion auf ökonomische Not, z.B. nach einer Immigration oder aufgrund schlechter Schul- und Ausbildung. Zudem romantisieren sie das «Reisen» und setzen es teilweise mit Urlaubsreisen gleich.
Ziele des Lehrmittels (Arbeitsgruppe und Autor:innen 2023) sind die Befähigung zu respektvollem Umgang und die Sensibilisierung für die kulturelle und gesellschaftliche Vielfalt. Es orientiert sich am Prinzip der Mehrperspektivität und fördert bei den Schüler:innen die Fähigkeit und den Willen zum Perspektivenwechsel.
Vertreter:innen aus den Minderheiten der Jenischen, Sinti:zze und Rom:nja haben das Lehrmittel in einem partizipativen Ansatz aktiv (mit)gestaltet, was heutigen ethischen Standards bezüglich wissenschaftlicher und pädagogischer Arbeit zu ethnischen Minderheiten entspricht. Von Anfang an galt der Grundsatz: Nichts über uns ohne uns!
Das Lehrmittel basiert auf neun Portraits. Selbstbeschreibungen und Erzählungen von Angehörigen der drei Minderheiten bilden den Ausgangspunkt für die Lernprozesse der Kinder. Fokussiert wird die gelebte Gegenwart, zu der auch der Umgang mit Gewalterfahrungen der Vergangenheit gehören. Somit kommt auch die historische Dimension des Umgangs mit den Minderheiten in der Schweiz und Europa zur Sprache.
Mit dem biografischen Ansatz wird ein induktiver Zugang gewählt. Dadurch soll die Festigung von Klischeevorstellungen vermieden werden. Ebenso können die Schüler:innen durch angeleitete Vergleiche strukturelle gesellschaftliche Dimensionen, wie etwa strukturellen Rassismus, herausarbeiten und erkennen. Analysen der in der Erprobung generierten empirischen Daten (schriftliche Schüler:innenprodukte, Notizen aus teilnehmender Beobachtung) zeigen, dass dieses Ziel mit dem Lehrmittel erreicht werden kann.
Der Beitrag diskutiert die Herausforderungen und Chancen der transdisziplinären Vernetzung der Fachdidaktik NMG mit Aktivist:innen und Expert:innen aus NGOs.
Forschung und nationales Netzwerk "Religionen, Kulturen, Ethik"
Beatrice Kümin, Urs Schellenberg
Pädagogische Hochschule Zürich
Am Beispiel eines Forschungsprojekt in der Fachdidaktik Ethik diskutiert der dritte Beitrag, wie über ein Fachdidaktik-Netzwerk verschiede Akteur:innen zusammengebracht, Forschung ermöglicht und Wissenschaftskommunikation gesichert werden kann. Im Zentrum der Studie steht der Ethikunterricht aus Sicht der Lehrpersonen. Im Zusammenhang mit der Einführung der Ethik als eigens ausgewiesenes Fach auf der Stundentafel der Zürcher Volksschule wurde das neue Schulfach in seinen Anfängen forschend in den Blick genommen. Basierend auf quantitativen und qualitativen Daten werden Ergebnisse vorgestellt und diskutiert. Dabei wird ein besonderer Fokus auf das Vernetzende der Ethik (Ethik im Fach und in den Fächern) gelegt (Autor:innen, 2023a; 2023b).
Ebenso werden die Erfahrungen, Ergebnisse und Herausforderungen in einer von 2017 bis 2023 laufenden Vortragsreihe zu ausgewählten fachdidaktischen Themen präsentiert, die der interkantonalen und internationalen Vernetzung und der Fachentwicklung diente. Der Fokus der Beiträge lag auf Fragen der Fachdidaktiken der Ethik und der Religionskunde, waren aber bewusst anschlussfähig für weitere gesellschaftswissenschaftliche Fachdidaktiken angelegt, was sich z.B. insbesondere in der Reihe zu rassismuskritischen Fachdidaktiken zeigte. Im Beitrag werden Chancen und Grenzen solcher kooperativen Netzwerke beleuchtet und auf dem Hintergrund der Entwicklung der Fachdidaktiken als wissenschaftlicher Disziplinen besprochen.