Verschränkung von Mathematikdidaktik und Erziehungswissenschaften: Einblick in interdisziplinär angelegte Forschungsprojekte rund um den Mathematikunterricht und das Mathematiklernen und -lehren
Chair(s): Esther Brunner (Pädagogische Hochschule Thurgau, Schweiz), Annelies Kreis (Pädagogische Hochschule Luzern)
Diskutant:in(nen): Kristina Reiss (TU München), Esther Brunner (Pädagogische Hochschule Thurgau), Annelies Kreis (Pädagogische Hochschule Luzern)
Fachdidaktiken sind als «grenzüberschreitende und trotzdem eigenständige Disziplin» (Reusser, 1991, S. 224) vernetzend angelegt und mit unterschiedlichen Bezugsdisziplinen im Gespräch. Insbesondere mit den Erziehungswissenschaften und der empirischen Bildungsforschung pflegt die Mathematikdidaktik seit vielen Jahren auch in der Schweiz eine intensive Zusammenarbeit (vgl. Reiss & Ufer, 2009). Weil Fachdidaktiken in der Schweiz relativ junge Wissenschaften sind (z.B. Heitzmann, 2013), war der Lead für interdisziplinäre Projekte anfänglich stärker bei den Erziehungswissenschaften, die sich aus ihrer Perspektive heraus mit dem Unterrichtsfach bzw. dem Lehren und Lernen von Mathematik befassten. Mittlerweile liegen auch in der Schweiz verschiedene interdisziplinäre Projekte vor, bei denen eine gleichberechtigte Kooperation zweier unterschiedlicher Disziplinen gepflegt wird und die versuchen, eine Fragestellung aus einer erziehungswissenschaftlichen und aus einer fachdidaktischen Perspektive zu bearbeiten und die Ergebnisse und Sichtweisen zusammenzuführen, um interdisziplinär sowie disziplinär relevante Ergebnisse zu gewinnen. Dafür ist es notwendig, dass methodische Arbeitsweisen der beteiligten Disziplinen koordiniert und geteilt werden (Reiss & Ufer, 2009).
In den drei Kooperationsprojekten, aus denen die Symposiumsbeiträge stammen, werden eine erziehungswissenschaftliche bzw. generisch-pädagogische Perspektive systematisch mit einer mathematikdidaktischen Forschungssicht verbunden. Fragen rund um das Lernen von Studierenden in Besprechungen zu Mathematikunterricht während Praktika (Beitrag 1) werden aus generisch-pädagogisch und gesprächsanalytischer Sicht verbunden mit einer mathematikdidaktischen Perspektive analysiert. In Beitrag 2 stehen mathematisches Argumentieren, Lernen mit Rubrics und Feedback-Kultur im Fokus. Und in Beitrag 3 wird eine Integration von Massen aus Psychologie und Mathematik in Bezug auf ihre Prädiktivität für die Bruchrechnung präsentiert.
In der abschliessenden Diskussion geht es darum, den Mehrwert von interdisziplinären Forschungszugängen zu beleuchten und Gelingensbedingungen für interdisziplinär angelegte Projekte zu diskutieren.
Beiträge des Symposiums
Lerngelegenheiten in verschiedenen Akteurskonstellationen des sozialen Netzwerks Praktikum: eine interdisziplinäre Analyse aus mathematikdidaktischer und erziehungswissenschaftlicher Perspektive
Annelies Kreis1, Esther Brunner2, Marco Galle1, Sanja Stankovic2, Sonja Hiebler1 1Pädagogische Hochschule Luzern, 2Pädagogische Hochschule Thurgau
Forschung zu Fragen der berufspraktischen Lehrpersonenbildung erfolgte bis anhin vorwiegend aus erziehungswissenschaftlichen und allgemeindidaktischen Perspektiven. Im Praktikum treffen Lehrstudierende allerdings ein vielfältiges soziales Netzwerk von Personen mit unterschiedlichen Qualifikationen und Kompetenzen an, die mit oder ohne formalisierten Auftrag zu Lernprozessen der Praktikantinnen und Praktikanten beitragen. Dabei impliziert vor allem auch die Stärkung der fachdidaktischen Ausbildung in den Studiengangscurricula der Lehrpersonenbildung während der letzten 20 Jahre die Untersuchung fachdidaktischer Fragestellungen und insbesondere der Bedeutung fachdidaktischer Ausbildungselemente für die Anregung von Lernprozessen auch in den berufspraktischen Studien. Dabei ist anzunehmen, dass die Verfügbarkeit fachlicher und fachdidaktischer wissenschaftlicher Kompetenzen für den Forschungsprozess und daraus gewonnene Erkenntnisse bedeutsam sind. Vor diesem Hintergrund werden in einer umfassenden Studie Lerngelegenheiten für Lehrstudierende (Lehrdiplom Primarstufe) in einem dreiwöchigen Praktikum interdisziplinär aus erziehungswissenschaftlicher und mathematikdidaktischer Perspektive untersucht. Für die Studie grundlegend ist die Hypothese, dass sich Lernangebote und deren Nutzung durch Studierende je nach Verfügbarkeit von Akteur:innen und deren Funktion und Qualifizierung unterscheiden. Mit Engeström (1999) wird Lernen im Praktikum als Ergebnis sozialer Tätigkeit, z.B. beim Unterrichten, in Planungsgesprächen mit Fachdidaktiker:innen oder Nachbesprechungen mit Mentor:innen in einem sozialen Netzwerk betrachtet (Autor:innen, 2022). Fachlichkeit wird dabei als Objekt verstanden und untersucht, das in der gemeinsamen Tätigkeit bearbeitet wird. In der Analyse der Objekte treffen die Perspektiven der Mathematikdidaktik und der Erziehungswissenschaft aufeinander. Dabei kommt ein kompetenzorientiertes Framework zur Anwendung, das – vorerst erziehungswissenschaftlich ausgerichtet (Kunter et al., 2011) – im Studienverlauf mathematikdidaktisch und erziehungswissenschaftlich ausdifferenziert wird. Mit einem mixed-methodischen und interdisziplinär angelegten Untersuchungsdesign werden Lerngelegenheiten und deren Nutzung durch Studierende (ST) während eines dreiwöchigen Praktikums untersucht. Methoden umfassen Fragebogen (NST = 393, NMD = 26, NMT = 53, NPL = 281), qualitative soziale Netzwerkanalyse (NST = 187) und Gesprächsanalysen von Unterrichtsbesprechungen (NST = 50) in vier Akteurskonstellationen pro Studierende:m je mit ihrer/seiner Praxislehrperson (PL), PH-Mentor:in (MT), Mathematikdidaktiker:in (MD) und Tandempartner:in (Peer, mit der/dem das Praktikum absolviert wurde). Im Beitrag werden die theoretischen Referenzsysteme und das Untersuchungsdesign der interdisziplinären Studie vorgestellt. Es folgen exemplarische Einblicke in eine für das Projekt hochrelevante und bis zur Tagung abgeschlossene Teilstudie, die interdisziplinär angelegte Basiscodierung videografierter und transkribierter Unterrichtsbesprechungen hinsichtlich der bearbeiteten Objekte aus mathematikdidaktischer und erziehungswissenschaftlicher Sicht. Der Beitrag zeigt eine Möglichkeit auf, wie Fragestellungen zur berufspraktischen Ausbildung von Lehrpersonen in enger und kokonstruktiver Kooperation zwischen Fachdidaktiker:innen und Erziehungswissenschafter:innen untersucht werden. Ausserdem gibt er Einblick in exemplarisch ausgewählte Ergebnisse einer Teilstudie hinsichtlich der Frage, inwiefern sich die in Unterrichtsbesprechungen bearbeiteten Objekte in verschiedenen Akteurskonstellationen, unter variierenden Voraussetzungen bezüglich Auftrag und Qualifikation unterscheiden.
Formatives Feedback im mathematischen Argumentieren – Eine Videoanalyse zur Erfassung von Häufigkeiten aus allgemeindidaktischer und fachdidaktischer Sicht
Heidi Dober1, Patricia Bachmann2 1Pädagogische Hochschule Luzern, 2Pädagogische Hochschule St. Gallen
Feedback wird spätestens seit Hatties (2008) umfangreicher Meta-Analyse zu den einflussreichsten Faktoren für den schulischen Leistungserfolg gezählt. Es kann als „multidimensionale Instruktionsmassnahme“ (Narciss, 2014, S. 72) sowie als „zentrale Komponente der Tiefenstruktur des Unterrichts“ mit Einfluss auf dessen Qualität gesehen werden (Rother, Kürzinger & Lipowsky, S. 592).
Um Feedback zu erfassen und zu erforschen, wurde seit geraumer Zeit eine beachtliche Anzahl verschiedener theoretischer Ansätze und Modelle entwickelt (Lipnevich & Panadero, 2021). Bei Betrachtung vieler Modelle zu Feedback fällt auf, dass fachliche Aspekte häufig in den Hintergrund gestellt werden und Feedback aus einer eher allgemeindidaktischen Perspektive betrachtet wird. Ein häufig rezipiertes Modell ist das von Hattie und Timperley (2007). Dieses unterscheidet u.a. Feedback auf vier verschiedenen Ebenen (Aufgabe, Lernprozess, Selbstregulation, die Person selbst), die das Lernen und die Leistung mehr oder weniger unterstützen. Andererseits wurde das Lehrpersonenfeedback aus fachdidaktischer Sicht, vom Gegenstand aus, mithilfe eines Modells für mathematisches Argumentieren als Prozess in Anlehnung an Lithner (2000) und Bezold (2009) analysiert. Das Modell zeigt drei Prozessphasen (1. Erfassung der Aufgabe und Finden der Operationen, 2. Operieren, um Argumente zu bestätigen, 3. Argumente sprachlich als Argumentation nachvollziehbar und überzeugend festhalten). Es stellte sich erstens die Frage, ob sich die vier Ebenen und drei Prozessphasen in Bezug auf das Lehrpersonenfeedback im mathematischen Argumentieren erfassen und Häufigkeiten feststellen lassen. Es stellte sich zweitens die Frage, welcher Ansatz bei der Analyse des Lehrpersonenfeedbacks verfolgt werden soll und wie allgemeindidaktische und fachdidaktische Ansätze zusammenspielen bzw. autonom zu behandeln sind.
Um den Fragen nachzugehen, wurden Videodaten von 44 Klassen (5. und 6. Stufe) aus dem Projekt „Formatives Feedback im mathematischen Argumentieren“ zweier Pädagogischen Hochschulen verwendet. Die Stichprobe beinhaltet 44 Lehrpersonen und ca. 760 Schüler:innen. Um das Feedback der Lehrkräfte zu erfassen, wurden Videosequenzen à 30 Minuten einer Lektion einer standardisierten neunwöchigen Unterrichtsreihe analysiert. In den Sequenzen mit individuellen Übungsphasen treten Lehrpersonen mit einzelnen Lernenden oder kleinen Gruppen in Interaktion, um Feedback zu generieren und die Lernenden beim mathematischen Argumentieren zu unterstützen. Die Feedbacksequenzen wurden einerseits im Sinne der vier Ebenen von Hattie und Timperley und andererseits entlang des mathematischen Argumentierens als Prozess mithilfe eines Manuals codiert, bezüglich Häufigkeiten analysiert und auf Überschneidungen geprüft.
In Bezug auf die vier inhaltlichen Ebenen nach Hattie und Timperley lässt sich feststellen, dass hauptsächlich Feedback auf der Ebene Aufgabe, weniger Feedback auf der Ebene Prozess und praktisch kein Feedback auf den Ebenen Selbst und Selbstregulation festgestellt werden konnte. Bezüglich des mathematischen Argumentierens als Prozess konnte v.a. Feedback zur Erfassung der Aufgabe und dem Finden der Operation (Prozessphase 1) codiert werden. Eine erste Analyse zeigte, dass die Häufigkeiten des Feedbacks auf der Ebene Aufgabe und Feedback zur Prozessphase 1 zusammenhängen.
Ziel des Beitrags ist die Diskussion der erfassten Häufigkeiten, die Überlappung von Codes aus allgemeindidaktischer und fachdidaktischer Perspektive sowie das Vorgehen beim Erfassen von Feedback als Komponente des Unterrichts aus verschiedenen Perspektiven.
Prädiktoren für den Erwerb des Bruchzahlkonzepts – Eine Integration von Forschungsansätzen aus der Psychologie und der Mathematikdidaktik
Constanze Schadl1, Stefan Ufer2 1FSJ Jena, 2LMU München
Dass das Bruchzahlkonzept Lernende vor substanzielle Herausforderungen stellt, ist seit langem bekannt (Padberg, 1986) und die Bedeutung von Wissen zu Bruchzahlen für das weitere Mathematiklernen ist gut dokumentiert (Siegler et al., 2012). Dass Unterschiede in den individuellen Lernvoraussetzungen den Erwerb des Bruchzahlkonzepts beeinflussen können, ist Teil sowohl der mathematikbezogenen psychologischen Forschung (McMullen et al., 2016; Hansen et al., 2015), als auch der mathematikdidaktischen Diskussion (z.B. Padberg, 2002). Allerdings ziehen die beiden Forschungstraditionen unterschiedliche Konstrukte heran, um diese Lernvoraussetzungen zu beschreiben: In der psychologischen Forschung werden Konstrukte der basalen Zahlverarbeitung, wie spontane Fokussierungstendenzen auf Zahlen und Zahlbeziehungen (McMullen et al., 2015, 2016) oder ordinale Zahlvorstellungen im Kontext des Zahlenstrahls (whole number line estimation; Hansen et al., 2015) untersucht, während aus mathematikdidaktischer Perspektive im deutschsprachigen Raum vor allem ein informelles Vorwissen zu Bruchzahlen (Padberg, 2002) diskutiert wurde und frühes Wissen zu vorlaufenden Konzepten wie Multiplikation und Division oder proportionalen Zusammenhängen relevant erscheinen. Während es aus psychologischer Perspektive eine Reihe von teils über lange Zeiträume angelegten Längsschnittstudien gibt, sind die Ergebnisse aus mathematikdidaktischer Perspektive bisher oft eher beschreibend angelegt, um beispielsweise typische Vorkenntnisse von Schüler:innen kurz vor der Einführung der Bruchrechnung zu dokumentieren. Gerade der Einfluss der Lernvoraussetzungen kurz vor der Einführung der Bruchrechnung erscheint aus fachdidaktischer Perspektive besonders relevant, um die notwendigen Voraussetzungen für erfolgreiches Lernen im Unterricht zu prüfen und ggf. sicherzustellen. Vorgestellt wird eine längsschnittlich angelegte Prädiktionsstudie mit N = 363 Lernenden der Jahrgangsstufe 6, in der drei Maße aus der psychologischen Forschungstradition (z.B. spontanes Fokussieren auf Zahlen bzw. Zahlbeziehungen), informelles Vorwissen zur Bruchrechnung aus der mathematikdidaktischen Forschungstradition, sowie zwei Konstrukte an der Schnittstelle der beiden Bereiche (Wissen zu Multiplikation und Division, symbolisches proportionales Schließen) als Voraussetzungen für den Erwerb des Bruchzahlkonzepts untersucht wurden. Das erworbene Wissen zum Bruchzahlkonzept wurde dabei mit drei Maßen konzeptualisiert, die konzeptuelle und prozedurale Wissensaspekte, aber auch die Kombination beider Bereiche umfassen. Für die drei eher distalen Lernvoraussetzungsmaße aus der psychologischen Forschungstradition wurden dabei auch indirekte Effekte über die anderen drei, eher proximalen Maße erwartet. Die Ergebnisse bestätigen im Wesentlichen dieses erwartete Muster, wobei jedoch nicht alle erwarteten indirekten Effekte beobachtet werden konnten, und unerwartete indirekte Effekte auftraten. Insgesamt zeigt die Studie, dass mathematikdidaktische Annahmen zu inhaltlich relevanten Lernvoraussetzungen sehr gut kombinierbar sind mit psychologischen Ergebnissen zu langfristig vorlaufenden Fähigkeiten für den Erwerb der Bruchrechnung. Im Vortrag werden Implikationen für eine weitere Integration von Modellen aus beiden Forschungstraditionen diskutiert, sowie erste praktische Folgerungen dazu, wie notwendiges Wissen für den Erwerb der Bruchrechnung kurz- und langfristig vorbereitet werden kann.
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