Singen in der Schule als fachdidaktischer Knotenpunkt – eine interdisziplinäre Perspektivierung
Chair(s): Martin Viehhauser (Pädagogische Hochschule Freiburg)
Diskutant:in(nen): Olivier Blanchard (Haute Ecole pédagogique Fribourg), Annamaria Savona (Pädagogische Hochschule Schwyz), Gabriel Imthurn (Pädagogische Hochschule Nordwestschweiz)
Dieses Symposium bringt drei musikdidaktische Dissertationen zum Thema Singen in den Dialog, wobei eine interdisziplinäre Herangehensweise sichtbar und ein fachdidaktischer Dialog möglich wird. Die unterschiedlichen wissenschaftlichen Perspektiven, seien diese gegründet in Erziehungswissenschaften, Musikwissenschaft, Kulturwissenschaften oder Sozialwissenschaften, ermöglichen sowohl eine holistische Sichtweise auf ein prominentes Handlungsfeld als auch einen kritischen Blick auf die Forschungszugänge. In dieser Hinsicht haben die drei Forschungsprojekte verschiedene theoretische und konzeptionelle Rahmen, unterschiedliche Erkenntnisinteressen und Methoden einbezogen. Jeder Forschungsbeitrag nähert sich dem Thema “Singen in der Schule” von einer unterschiedlichen normativ-didaktischen und soziokulturellen Perspektive und zieht daraus entsprechende unterschiedliche Erkenntnisse für den Musikunterricht. Die Diskussion der Ergebnisse geht über die disziplinären Inhalte hinaus und bezieht sich auf verschiedene Aspekte der Vermittlung, des Lehrens und des Lernens.
Im ersten Beitrag wird aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive (Reckwitz, 2006) beschrieben, wie das Singen seine Bedeutung erst im sozialen Kontext des Musikunterrichts entfaltet und daher von den Lehrpersonen nur beschränkt kontrolliert werden kann. Diese empirische Erkenntnis bildet die Grundlage für eine Reflexion kultureller Macht- und Ausschlussmechanismen und versteht sich als hegemonietheoretischer Beitrag zu einer kultursensiblen Musikdidaktik.
Der zweite Beitrag setzt sich mit der Kompetenzentwicklung von Klassenlehrpersonen bei der Liedvermittlung auseinander. Unter Bezug auf die kultur-historische Tätigkeitstheorie (Engeström, 1987) konzentriert sich die Forschung auf die sprach-musikalische Kinderliedgrammatik bei der Organisation der Handlungen der Lehrpersonen (Stadler Elmer, 2015) sowie auf den Einsatz von Musikinstrumenten und Audiogeräten als kulturelle Artefakte (Reckwitz, 2002).
Im dritten Beitrag nimmt ein erziehungswissenschaftlicher Blick die Frage nach der Förder- und Beurteilungskultur des Singens auf. In der inhaltsanalytischen Auswertung von Interviews aus der Perspektive ganzheitlichen Assessments wird das Potenzial individueller Lernwege (z. B. Winter, 2015) untersucht, wobei einerseits Desiderate der Beurteilung und andererseits Entwicklungspotenziale intuitiv gewachsener Unterrichtskulturen sichtbar werden.
Mit diesen drei Perspektiven tragen die drei Forschungsarbeiten zur Frage nach der Identität und Entwicklung der Fachdidaktik als Wissenschaft allgemein sowie spezifisch für das Fach Musik bei.
Beiträge des Symposiums
Wenn Bedeutungen mäandern…
Olivier Blanchard Pädagogische Hochschule Freiburg
Im Forschungsprojekt, das diesem Vortrag zugrunde liegt wurde nicht nach Singen gefragt, sondern Singen gefunden, was bereits wesentlich mit dem wissenschaftstheoretischen Zugang zusammenhängt. Aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive wurde der musikunterrichtliche Alltag auf der Sekundarstufe 1 beforscht. Diese geht davon aus, dass die Mitglieder einer sozialen Gruppe in ihren Praktiken ihre Umwelt (die sie umgebenden Menschen, Objekte, Ideen, Aktivitäten usw.) mit Sinn versehen – dies tun sie in der Regel implizit und beiläufig. Der dadurch entstandene soziale Sinn ist einerseits notwendig, damit die soziale Gruppe überhaupt verständig miteinander handeln kann. Andererseits wird dadurch das Handeln auch eingeschränkt, da der Sinn, der den Praktiken und den Dingen verliehen wurde, kollektiv verstanden werden muss und deshalb nicht beliebig (von einer einzigen Person) umgedeutet werden kann (Moebius, 2009; Reckwitz, 2005, 2008).
Aus dieser Perspektive heraus wurde der Musikunterricht als ein Raum gedacht, der seinen kollektiven Sinn (v.a.) durch die Praktiken der an ihm teilnehmenden Lehrpersonen und Schüler·innen erhält (vgl. Vogt, 2014). Die Forschung hatte zum Ziel eine dichte Beschreibung (Geertz, 1987) der Kultur «Musikunterricht» zu verfassen. Dazu wurde mit einem ethnographischen Zugang (z. B. Breidenstein et al., 2013) an fünf Musikunterrichten während eines Jahres beobachtend teilgenommen. Diese Teilnahmen wurden zu Protokollen verarbeitet, die aus der Perspektive der Hegemonietheorie von Laclau und Mouffe (2012) analysiert wurden. Es wurde nach zentralen Orientierungspunkten des Unterrichts gesucht und gefragt, welche Bedeutung diese durch die Praktiken erhalten. Dabei hat sich gezeigt, dass das Singen einer der Knotenpunkte der beforschten Unterrichte war. Allerdings zeigte sich auch, dass die Bedeutung des Singens nicht eindeutig ist, sondern dass das Singen – gerade, weil es so ein zentrales Konzept des Unterrichts darstellt – vielmehr in der Lage ist, eine Vielzahl von Bedeutungen in sich aufzunehmen. Mit dem Mäandern dieser Bedeutungen des Singens verschiebt sich aber auch der Sinn des gesamten Musikunterrichts.
Im Vortrag werden deshalb einige Bedeutungen vorgestellt, mit denen das Singen in den beforschten Musikunterrichten versehen wird und aufgezeigt, welcher zentrale Sinn das gesamte System mit der jeweiligen Bedeutung erhält, aber auch, welche Ausschlüsse damit produziert werden müssen, damit dieser zentrale Sinn aufrechterhalten werden und das musikunterrichtliche Handeln im Fluss bleiben kann. Schliesslich wird auf dieser Grundlage nicht nur nach potenziellen musikdidaktischen Antworten auf die jeweils unterschiedlichen Situationen gefragt, sondern nach dem Status der Musikdidaktik insgesamt.
Kompetenzentwicklung angehender Lehrpersonen in der Liedvermittlung
Annamaria Savona Pädagogische Hochschule Schwyz
Das Singen ist eine der Kernkompetenzen des Musikunterrichts in der Grundschulausbildung, da es sowohl ein Bestandteil als auch ein Mittel der kulturellen Bildung darstellt (Lehrplan 21, D-EDK, 2014). Einerseits sind Lieder symbolische Mittel, welche Inhalte, Werte, soziale Normen, sowie sprach-musikalische Regeln vermitteln. Andererseits ist das Singen eine soziokulturelle Praxis, denn durch sie werden individuelle Gefühle geteilt und kollektiv erlebt (Vygotsky, 1974; Stadler Elmer, 2015).
In meiner Längsschnittstudie habe ich die Vermittlung der kulturellen Praxis des gemeinsamen Singens im Zyklus 1 erforscht. Auf der Grundlage des didaktischen Paradigmas Lehrperson-Gegenstand-Schulkinder (Schneuwly, 2021; Stadler Elmer, 2021) und der kultur-historischen Tätigkeitstheorie (Engeström, 1987, 2001) konzentrierten sich meine epistemologischen Interessen auf drei Schwerpunkte: 1) Angehende Klassenlehrpersonen als Subjekte, die institutionell mit der Vermittlung dieser kulturellen Praxis beauftragt sind; 2) Lieder als Gegenstand der Vermittlung, deren sprach-musikalische Grammatik die Handlungen der Lehrpersonen leitet; 3) Musikinstrumente und Audiogeräte als kulturelle Artefakte und "objects of knowledge" (Reckwitz, 2002, 2012), welche die Lehrpersonen als Mediatoren einsetzen.
Die Datenerhebung besteht aus gefilmten Lektionen, Interviews mit Klassenlehrpersonen basierend auf ihren aufgezeichneten Lektionen, und einer semi-strukturierten Befragung. Erstens habe ich die wiederkehrenden Handlungen identifiziert, die die Liedvermittlung von angehenden Klassenlehrpersonen konstituieren, und eine neue Methode zur Transkription der Lektionen in diesem Bereich entwickelt - die Lesson Activities Map (LAMap; Savona et al., 2021). Die LAMap-Transkriptionen und die Definition entsprechender fachlicher Begrifflichkeiten ermöglichen es, ausgewählte Momente der Lektionen systematisch zu beschreiben und die Ergebnisse der Beobachtung für den kritischen Diskurs verständlich darzustellen. Zweitens habe ich die individuellen Perspektiven der angehenden Lehrpersonen rekonstruiert, wie sie ihr Handeln begründen und ihre eigene professionelle Entwicklung reflektieren. Drittens habe ich systematisch beschrieben, wie angehende Lehrpersonen Musikinstrumente und Audiogeräte beim Klassengesang einsetzen und wie sie ihre diesbezügliche Auswahl begründen. Da der methodische Ansatz dieser Forschung Musikpädagogik, Erziehungswissenschaften, Musikwissenschaft, Sozialwissenschaften und Kulturwissenschaften umfasst, tragen die Ergebnisse auf verschiedenen Ebenen sowohl zur Entwicklung der Musikdidaktik als vernetzende Wissenschaften als auch zur interdisziplinären Verknüpfung zu anwendungsorientierten Erkenntnisinteressen bei.
Assessment des Singens: Auf der Suche nach individuellen Förderpraktiken und validen Beurteilungsmechanismen
Gabriel Imthurn Pädagogische Hochschule Nordwestschweiz
Im Vortrag werden entlang einer Autoethnografie zu eigenen Unterrichtspraxen sowie Interviewdaten von Musiklehrpersonen der Sekundarstufe 1 Haltungen und Vorstellungen zur Förderung und Beurteilung des Singens untersucht. Dabei führt die Autoethnografie (z.B. Ellis et al., 2010) mittels Analyse von Feldnotizen zu einer Fokussierung der Fragestellung auf individuelle Stimmförderung. Entsprechend werden Aspekte des Forschungsstands bezüglich Diagnose- und Beurteilungsmethoden sowie der in der Sekundarstufe 1 stattfindenden adoleszenten Stimmentwicklung (Mutation) rezipiert. Als Heuristik zur Auswertung der Interviewdaten, die mittels einer qualitativen Inhaltsanalyse (Mayring, 2015) strukturiert werden, dient ein Modell ganzheitlichen Assessments (Earl, 2013), das die Spezifika formativer und summativer Beurteilung skizziert. Formative Beurteilung wird dabei favorisiert und als Vorlauf einer im Schulbereich notwendigen summativen Beurteilung dargestellt. Dabei steht ausgehend von konstruktivistischen Lerntheorien (Schmidt, 2020) immer das Individuum im Zentrum.
Diese spezifisch erziehungswissenschaftliche Perspektive lenkt den Blick zuerst auf Vorgehensweisen der summativen Bewertung, die in vielen Klassenzimmern als Vorsingen in irgendeiner Form eine Rolle spielen. Die Untersuchung zeigt, dass zwar adäquate Parameter für die Kompetenzmessung verwendet werden, aber in keiner Weise Indikatoren zu finden sind, die auf eine valide Beurteilung schliessen lassen. Dies wird zusätzlich akzentuiert durch das Vermeiden einer grossen Streuung in den Noten, um auf keinen Fall jemanden zu verletzen, was schliesslich zu einer Form von Nichtbewertung führt. Zwar geben Lehrpersonen im Anschluss an das Vorsingen individuelle Feedbacks (Fautley, 2010), ein vorgängiges Training im Sinne von formative assessment findet aber kaum statt. Zudem scheint die adoleszente Stimmentwicklung für viele Lehrpersonen eine Unbekannte zu sein.
Im Rahmen der Analyse individueller Zielsetzungen zeigte sich allerdings eine spannende Typisierungsmöglichkeit, die in impliziter Form zu einer individuellen Förderung führt. Einerseits ist zu beobachten, dass Lehrpersonen ein starkes Gewicht auf die Förderung der vocal identity (Ashley, 2015) legen, was mit einer Förderung der Persönlichkeit einhergeht: «Ich will, dass sie eine Stimme haben». Andererseits legen Lehrpersonen den Fokus auf gesangliche Fähigkeiten, sind aber mit den Resultaten unzufrieden. Ausnahmen bestätigen die Regel. Interessant ist dabei, dass die Letzteren die frontale Unterrichtssituation im Sinne von Chorgesang kaum verlassen, die Ersteren aber eine grössere Bandbreite von Unterrichtsformen pflegen und insbesondere Gruppenarbeiten sowie geschlechtergetrennte Arbeitsformen einsetzen.
Im Vortrag wird abschliessend auf der Basis dieser Erkenntnisse die Idee eines Stimmportfolios skizziert, das formative und summative Aspekte von Assessments aufnimmt und der individuellen Stimmentwicklung Rechnung trägt.
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