In einigen Schulfächern wie Deutsch, Politik oder Philosophie, in denen die Gegenstände nicht eindeutig in richtig/falsch unterschieden werden können, sondern diese mehrere Meinungen bzw. Interpretationen zulassen, wurden fachdidaktische Konzepte entwickelt, die diskursive Auseinandersetzung unter den Schüler*innen zu einer zentralen Form erheben (vgl. z.B. Steinbrenner/Wiprächtiger-Geppert 2006; May-Krämer 2019, Drerup/Yacek 2020). In diesen Ansätzen wird durchweg der Anspruch formuliert, dass durch diskursive Gesprächsformen nicht nur Inhalte wie auch zentrale Fachkompetenzen vermittelt werden sollen, sondern dass dem Diskutieren selbst auch ein pädagogischer Wert zukomme. Folglich geht es den diskursiven Formen bzw. beim Diskutieren in diesen Fächern sowohl um Erziehung zum Diskutieren als auch um Erziehung durch das Diskutieren.
Der erziehungstheoretische Diskurs hat diese diskursiven Praxisformen bisher jedoch nicht systematisch reflektiert. In deutschsprachigen Handbücher finden sich ausschließlich allgemeinere Praktiken des Erziehens wie das klassenöffentliche Gespräch, das auch sehr lehrkraftgesteuerte Formen umfasst (vgl. z.B. Bittner 2012). Dies verwundert umso mehr, als im englischsprachigen Raum in den letzten 40 Jahren eine Auseinandersetzung um verschiedene Formen diskursiven Unterrichts, der die Partizipation der Schüler*innen ins Zentrum des Unterrichts stellt, unter Begriffen wie ‚dialogic/discoursive teaching‘ systematisch entwickelt wurde (vgl. Nystrand 1997, Wells/Arauz 2006, Boyd 2015).
Dieser Umstand könnte u.a. auf die recht weitgehende Beschränkung erziehungswissenschaftlicher Unterrichtsforschung auf die Sozialdimension (z.B. auf Inklusion, Partizipation) und der fachdidaktischen und bildungswissenschaftlichen Forschung auf die Sachdimension (z.B. Vermittlung, Fachlichkeit) zurückgeführt werden. Das Symposium bearbeitet dieses Desiderat, indem anhand von drei unterschiedlichen Fächern die empirische Praxis des unterrichtlichen Diskutierens vergleichend qualitativ-rekonstruktiv untersucht wird. Übergreifende Forschungsfragen sind dabei:
- Welche gemeinsamen und unterschiedlichen Erziehungspraktiken der diskursiven Aushandlung und zum diskursiven Verhandeln zeigen sich empirisch?
- Welche gemeinsamen und unterschiedlichen Erziehungsanforderungen für das Diskutieren werden sichtbar?
- An welchen empirischen Erscheinungsformen lässt sich das unterrichtliche Diskutieren sowohl vom allgemeinen Diskutieren als auch von anderen Formen des unterrichtlichen Gesprächs unterscheiden und damit erziehungstheoretisch als Form der Erziehung verstehen?
König, Hannes / Lehndorf, Helen
Erziehung zum Diskurs? Zur Diskursivität des Literaturunterrichts
Ausgangspunkt des Beitrags ist die empirische Beobachtung, dass Diskursivität für den Literaturunterricht zwar normativ und empirisch prägend ist, dass allerdings die allgemeine, fachübergreifende Doktrinalität des schulischen Unterrichts damit nicht grundsätzlich überwunden wird. Vielmehr finden sich sachinduzierte Momente der Diskursivität zum einen, zum anderen Inszenierungen von Diskursivität. Vor dem Hintergrund dieser Ausgangslage soll sequenzanalytisch untersucht werden, ob mit einer so verstandenen Diskursivität des Literaturunterrichts spezifische Erziehungsanforderungen einhergehen, die sich von denen des doktrinalen Unterrichts unterscheiden.
Herfter, Christian
Urteilsbildung im Geschichtsunterricht
Der Beitrag widmet sich der Praxis der Erziehung zur Sach- und Werturteilsbildung im Geschichtsunterricht. Am empirischen Beispiel wird untersucht, wie Lernende historische Ereignisse analysieren, in gemeinsamen Diskussionen Sichtweisen aushandeln und dabei Urteilsbildungsprozesse gestalten. Am empirischen Material wird ein systematisches Auseinanderfallen zwischen didaktischem Anspruch an schülerseitige Urteilsbildungsprozesse und realisierter Praxis sichtbar. Auf Basis von vielfältigen Vorarbeiten zur Theorie des Unterrichts als einer pädagogischen Ordnung wird versucht, diese Differenz zu erklären.
Goldmann, Daniel
Die Form des Diskutierens erzieht!
Am Beispiel des Mathematikunterrichts wird das unterrichtliche Diskutieren als schulische Erziehung reflektiert. Auf Basis systemtheoretischer Unterrichts-, Lern- und Erziehungstheorie wird die These entworfen, dass über diese Form des Diskutierens vorhandene Varianten von Unterricht nicht bloß durch eine weitere ergänzt werden. Vielmehr konstituiert sie eine kategorial andere abduktiv-reflexive Ordnungsbildung, die sich grundlegend vom etablierten Modus linear-technischer Vermittlung in Schule unterscheidet. Über diese Theoretisierung können zum einen bloße Inszenierungen oder ‚Fehlformen‘ von Diskussionen im Unterricht als linear-technische Überformungen der Form des Diskutieren verstanden und damit erklärt werden. Zum anderen wird sichtbar, dass beim Diskutieren nicht die Lehrkraft, sondern die Form selbst zu zentralen Zielen wie Inklusion oder Demokratie erzieht.