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Sitzungsübersicht
Sitzung
Mi1.5: Symposium
Zeit:
Mittwoch, 25.09.2024:
9:00 - 10:30

Chair der Sitzung: Vera Moser, Goethe Universität Frankfurt
Ort: EF 50 Raum 4.435


Die Qualität sonderpädagogischer Überprüfungsverfahren aus interdisziplinärer Perspektive


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Präsentationen

Die Qualität sonderpädagogischer Überprüfungsverfahren aus interdisziplinärer Perspektive

Chair(s): Moser, Prof. Dr. Vera (Goethe Universität Frankfurt)

Diskutant*in(nen): Gasterstädt, Jun.-Prof. Julia (Uni Kassel)

Das sonderpädagogische Überprüfungsverfahren hat inzwischen eine mehr als hundertjährige Tradition und dient bis heute der Differenzierung zwischen sogenannten Regelschüler:innen und solchen, die zusätzliche sonderpädagogische Unterstützung benötigen.

Aufgrund der nationalen und internationalen kritischen Beobachtung höchst unterschiedlicher Quoten sonderpädagogischer Förderung (z.B. Goldan und Kemper 2019; international: Holt 2004, McKey und Neil 2009, Desforges und Lindsay 2010) wurde in den letzten fünf Jahren in allen deutschen Bundesländern an einer verbesserten Standardisierung dieser Verfahren im Hinblick auf den Ablauf und die Organisation gearbeitet und die Durchführung z.T. auch aus den durch die regionale Schulaufsicht beauftragten Förderschulen in zentrale Stellen verlagert. Zudem regeln inzwischen nahezu alle Bundesländer den Turnus der Überprüfung dieser Diagnosen. Damit soll die Qualität der Gutachten i.S. der Validität, Objektivität und Reliabilität erhöht werden. Dies verweist bereits darauf, dass hiermit v.a. auf Gutachtenkriterien rekurriert wird, die im Bereich der Psychologie entwickelt wurden, die in den Leitlinien zur Erstellung sonderpädagogischer Gutachten allerdings keine explizite Erwähnung finden. Hierzu gehört z.B., dass „Ergebnisse verständlich, nachvollziehbar und adressatengerecht erläutert“ und Schlussfolgerungen „nach (vorab) festgelegten Entscheidungsstrategien bzw. einem vorab festgelegten Urteilsbildungsmodell“ getroffen werden (Föderation Deutscher Psychologenvereinigungen 2017, S. 6).

Wenngleich im Kontext der sonderpädagogischen Diagnostik analoge wissenschaftlich fundierte Qualitätsstandards eingefordert werden (Gebhardt et al. 2022, S. 9), steht deren Bestimmung noch aus. Zudem liegen bisher auch nur wenige inhaltsanalytische Studien der sonderpädagogischen Gutachten vor (Gomolla und Radtke 2002, Kottmann 2006, Gasteiger-Klicpera et al. 2023), die jeweils spezifische Untersuchungsfragen und keinem übergeordneten gutachterlichen Qualitätsverständnis folgen. Vielfach werden zudem nur einzelne Förderschwerpunkte betrachtet und es zeigte sich, dass Standards der klassischen Testtheorie wenig von den Gutachter:innen eingehalten werden, die verwendeten Testverfahren sowie der diagnostische Prozess kaum nachvollziehbar waren, die Normen für die Interpretation der Testergebnisse teilweise veraltet waren oder gar nicht vorlagen und die einleitende Fragestellung zu einem spezifischen sonderpädagogischen Förderschwerpunkt kaum hinterfragt wurde (Breitenbach 2014.; Schuck et al. 2006; Hoffmann et al. 2017; Schöning et al. 2013). Zudem zeigt eine aktuelle Studie, dass die eingesetzten Testverfahren oftmals nicht ausreichend aussagekräftig für Fördermaßnahmen sind, der Intelligenzdiagnostik eine unverhältnismäßige übergeordnete Bedeutung zugeschrieben wird und zudem die Bundesländer höchst unterschiedliche Vorgaben zum Einsatz bestimmter Testverfahren machen (Joél 2023).

In Bezug auf das Tagungsthema einer interdisziplinären Fundierung der sonderpädagogischen Disziplin soll im Symposium eine Analyse von 54 sonderpädagogischen Gutachten sowie 50 Elterngesprächen aus dem Gesamtsample des BMBF Projekts FePrax (Förder-Nr.: 01NV2106) erfolgen und der Frage nach Qualitätskriterien der Gutachten und der Elterngespräche in interdisziplinärer Perspektive (Sonderpädagogik, Psychologie, Empirische Bildungsforschung) nachgegangen werden. Dabei wird erstens das Verhältnis von psychologischen Tests und pädagogischen Beobachtungsdaten in den Gutachten untersucht, zweitens die Spezifität gutachterlicher Daten und die Trennschärfe der Begründung sonderpädagogischer Förderschwerpunkte geprüft sowie drittens der Frage nachgegangen, inwiefern in den abschließenden Elterngesprächen eine klare Trennung von Verwaltungs- und Beratungshandeln erkennbar ist. Methodisch kommen in den Beiträgen inhaltsanalytische und Machine Learning Analysemodelle zum Einsatz.

 

Beiträge des Symposiums

 

Zum Verhältnis von Test- und Beobachtungsdaten in sonderpädagogischen Überprüfungsverfahren

Aissa, Rebecca1, Haas, Dr. Benjamin2, Althaus, Nadja3, Moser, Prof. Dr. Vera2
1DIPF, 2GU Frankfurt, 3HU Berlin

Sonderpädagogische Gutachten bestehen aus einem anamnestischen Teil, einem testdiagnostischen und einem pädagogischen Teil, wobei die Verknüpfung dieser Informationen in Bezug auf die Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs nicht vordefiniert ist. Zudem unterliegen die jeweiligen Daten unterschiedlichen Qualitätsanforderungen:

Ein psychologisches Gutachten zielt auf die Sammlung und Verdichtung von Informationen bezüglich einer konkreten Person. So sollen Defizite und Ressourcen, Entwicklungsprozesse sowie umweltbezogene Merkmale des Kindes objektiv, zuverlässig und valide erfasst werden (Petermann und Petermann 2006). Eine Mindestvoraussetzung für die Auswahl der psychologischen Tests ist die Erfüllung der DIN 33430 (Beuth 2016) als rechtsnächster Norm. Die Auswahl, Anwendung, Darstellung und Interpretation von testpsychologischen Verfahren können eine entscheidende Rolle für die Gutachtenerstellung spielen. Zur Erhebung von Informationen sollten daher theoriebasierte Verfahren verwendet werden (Schmidt-Atzert und Amelang 2012).

Die Qualität einer pädagogischen Diagnostik lässt sich definieren als eine allen pädagogischen Handlungen immanente Erkenntnistätigkeit mit Blick auf Dimensionen des Lernens, der Erziehung, der Bildung und der Sozialisation (Sturm 2013). Übergeordnetes Ziel ist die Analyse von Lehr- und Lernprozessen, um damit zur Optimierung des individuellen Lernens beizutragen (Breitenbach 2020; Ingenkamp und Lissmann 2008). Ansätze einer pädagogischen Diagnostik sind dabei durch ein konstruktivistisches Lernverständnis geprägt, das Probleme im Lernen nicht isoliert, sondern im systemischen Kontext betrachtet (Werning 2007). Dies bedarf dem Sammeln von Informationen mittels nicht standardisierter, sozialwissenschaftlicher Instrumente (van Ophuysen et al. 2013) sowie einem verstehenden Nachvollziehen individueller Lernprozesse zur Gestaltung eines adaptiven inklusiven Unterrichts (Schiefele et al. 2019). Nähere Vorgabe hierzu gibt es nicht.

Die Verknüpfung und Gewichtung dieser psychologischen Test- und pädagogischen Beobachtungsdaten erfolgt bisher keinen klaren Kriterien. Daher wird auf der Grundlage von acht inhaltlich begründeten analytischen Kategorien der Einsatz und die Gewichtung dieser Daten auf der Grundlage des Gesamtkorpus des BMBF Projekts FePrax von 54 Gutachten geprüft.

 

Zur Spezifität und Trennschärfe gutachterlicher Daten in Bezug auf die sonderpädagogischen Förderschwerpunkte

Galeano-Weber, Dr. Elena, Aissa, Rebecca, Hasselhorn, Prof. Dr. Marcus
DIPF

Ein wichtiger Aspekt der heutigen Praxis in sonderpädagogischen Feststellungsverfahren ist die Überprüfung und Zuweisung eines Förderschwerpunkts in einen bestimmten Bereich wie Lernen, Sprache oder geistige Entwicklung (KMK 1994; 2000). Doch wie spezifisch verläuft eine solche gutachterliche Beurteilung und inwiefern lassen sich verschiedene Förderschwerpunkte aus gutachterlichen Informationen ableiten? Mit genau diesen Fragen beschäftigt sich die vorliegende Studie mit dem Ziel einer kritischen Reflexion der gutachterlichen Entscheidungsfindung bzw. Förderempfehlung. Anhand von kodierten Textinformationen aus Gutachten in verschiedene Subkategorien, die Kind- und Umfeldmerkmale umfassten (Heimlich 2022), wurde zunächst der „Ist-Zustand“ der gutachterlichen Informationen auf einer Ressourcen-Defizit Skala bewertet. Mit modellbasierten Machine Learning Methoden wurde dann geprüft, ob diese Merkmalsinformationen systematische Rückschlüsse auf den zugeteilten Förderschwerpunkt liefern können. Die Stichprobe umfasste N = 54 Kinder bzw. Gutachten und konzentrierte sich auf fünf verschiedene Förderschwerpunkte: Emotionale und soziale Entwicklung, geistige Entwicklung, Lernen, Sprache und Autismus. Die Ergebnisse zeigen, dass in den Gutachten überwiegend Schwächen anstelle von Stärken berichtet wurden, was für eine defizit- und wenig ressourcenorientierte Überprüfung von Förderbedarfen spricht. Zudem wurden bestimmte Bereiche wie kognitive oder sprachliche Fähigkeiten fast immer begutachtet, wohin gegen fachliche Lernvorrausetzungen weniger häufig und Eltern-Kind Interaktionen nur selten überprüft wurden. Die diagnostischen Angaben in den einzelnen Gutachten ließen keine systematischen Rückschlüsse darauf zu, welcher Förderschwerpunkt für ein Kind empfohlen wurde. Diese Ergebnisse implizieren, dass der Entscheidungsprozess bezüglich der Förderempfehlung für einen bestimmten Schwerpunkt nicht sehr nachvollziehbar ist. Insgesamt lässt sich schließen, dass eine umfassenderer Überprüfung, die mehrere Bereiche und deren Wechselwirkungen, die Spezifität von sonderpädagogischen Feststellungsverfahren erhöhen könnte. Ein transdiagnostischer und kontextbezogener Rahmen für die „sonderpädagogische Charakterisierung", der Kind- und Umfeld Daten kombiniert, könnte einen Mehrwert gegenüber der kategorischen Einteilung in einen bestimmten Förderbereich darstellen (van Os et al. 2023). Es würde dabei nicht mehr darum gehen, ob das Kind an einem bestimmten Bereich, sondern wie und in welchem Ausmaß dieses Kind in seinem Wohlbefinden, seinen sozialen Interaktionen oder seinem Alltag in der Schule und im häuslichen Umfeld eingeschränkt ist und welche individuellen und/oder situativen Ressourcen, die Beeinträchtigungen begünstigen können.

 

Beratungs- und Verwaltungshandeln in Elterngesprächen im Kontext der Feststellung sonderpädagogischer Förderbedarfe

Brodesser, Dr. Ellen, Rettschlag, Monique, Uhlemann, Nele
HU Berlin

Nach der Erstellung der sonderpädagogischen Gutachten bilden die abschließenden Gespräche mit den Sorgeberechtigten, die in den Bundesländern unterschiedlich geregelt sind (Wolf & Dietze 2022) und von den Verantwortlichen unterschiedlich ausgestaltet werden, den Abschluss des formalen Verfahrens. Teilnehmende dieses Gesprächs sind in der Regel die mit der Überprüfung beauftragte sonderpädagogische Lehrkraft bzw. Diagnostiker:in und eine sorgeberechtigte Person sowie z.T. andere Akteur:innen, wie die derzeitige oder zukünftige Klassenleitung oder Schulleitung. Dabei sollen die „Entwicklung eines gemeinsamen Verständnisses“ (Senat Berlin 2017, 9) und die „Verabredung weiterer Schritte der Förderung“ (ebd.) im Fokus stehen.

Während das sonderpädagogische Gutachten dem schulischen System als „schriftliche Entscheidungshilfe“ (Amelang & Schmitz-Atzert 2006) und diagnostische Grundlage für weitere Entscheidungen dient, hat das abschließende Gespräch die Funktion, den Bedarf gegenüber den Sorgeberechtigten als Lösung des Lern- und Schulleistungsproblems ihrer Kinder zu legitimieren.

Diese Beratung von Sorgeberechtigten, die über den schulischen Weg ihres Kindes entscheiden sollen, ist ein bislang wenig erforschtes Feld. Der zunehmenden Standardisierung zur Erstellung sonderpädagogischer Gutachten entspricht hierbei keine Standardisierung der Kommunikation der Ergebnisse mit den Sorgeberechtigten. Die Frage, welche Inhalte und Kommunikationsstrukturen die Gespräche aufweisen, welche Qualitätskriterien hinsichtlich der Beratung von Sorgeberechtigten benannt werden können und in welchem Verhältnis der administrative Verwaltungsakt zwischen „Zwang, Tausch und Überredung“ (Bohne 2018) gegenüber der offenen Beratung (Krause 2004; Diouani-Streek & Ellinger 2019) zur weiteren schulischen Förderung der Kinder steht, sind daher zentrale Forschungsfragen, die im BMBF-Projekt FePrax bearbeitet werden. Insbesondere Sorgeberechtigte, die keine ausgeprägte Meinung und/oder wenig Kenntnisse über das deutsche Schulsystem haben (z. B. aufgrund eines migrantischen Hintergrunds, Gomolla & Radtke 2002), benötigen hier Unterstützung und Beratung im Rahmen eines interdisziplinären ‚Arbeitsbündnisses‘ (Hechler 2010; Oevermann 2016), um die Bedeutung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs und seine Auswirkungen auf den weiteren Bildungsverlauf des Kindes zu verstehen (Igstadt & Thoms 2023).

Vor diesem Hintergrund werden inhaltsanalytische Untersuchungen von 50 audiographierten Gesprächen aus dem Projekt FePrax vorgestellt, um die Qualität der Beratungsgespräche als fester Bestandteil des sonderpädagogischen Feststellungsverfahrens auszuleuchten.