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Sitzungsübersicht
Sitzung
Einzelbeiträge 1-4
Zeit:
Montag, 30.09.2024:
15:00 - 16:40

Ort: Gebäude A2 2 – Raum 1.20.1


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Präsentationen
15:00 - 15:35

„Jeder ist ja auf seine Art besonders“ – Inklusive Grundschule aus der Perspektive von Kindern

Lena Ohnesorge

Universität Hildesheim, Deutschland

Heterogenität als „(schul)pädagogische(r) Schlüsselbegriff“ (Mecheril & Vorrink 2014, S. 105) ist in der Grundschulpädagogik und -didaktik von besonderer Bedeutung: Schließlich versteht sich die Grundschule seit ihrer Gründung als erste allgemeinbildende und grundlegende Schule für (fast) alle Kinder (vgl. Einsiedler, Martschinke & Kammermeyer 2008). Heterogenität als Beschreibung von Lerngruppen zeigt sich zum einen angesichts sozialer, migrations- und geschlechtsbezogener Disparitäten im deutschen Bildungssystem (vgl. Lewalter et al. 2023) als höchst relevant. Zum anderen stellt der Umgang mit Heterogenität selbst einen Lerngegenstand dar: Die Auseinandersetzung mit gesellschaftlich produzierter Ungleichheit als epochaltypischem Schlüsselproblem in Gegenwart und Zukunft trägt zur Allgemeinbildung in der Grundschule bei (vgl. Klafki 2005).

Aus der Einführung der inklusiven Schule in Folge der UN-Behindertenrechtskonvention (vgl. UN 2006) mit der Zielsetzung der Vermeidung von Diskriminierung und Marginalisierung jedweder Dimension von Heterogenität (vgl. Hinz 2015) resultiert ein weitreichender Verände-rungsprozess. In empirischer Forschung zu schulischer Inklusion überwiegt die Perspektive von Lehrer*innen. Doch eine Grundschule, die dem Anspruch folgt, das Kind und seine Bedürfnisse, Interessen und Wahrnehmungen als Ausgangspunkt zu nehmen (vgl. Kahlert 2016), muss Kinder selbst zu Wort kommen lassen. Angesichts der menschenrechtlichen Forderung nach Gehör und Partizipation von Kindern (vgl. UN 1989) ist deren Partizipation an Schulentwicklung und folglich auch deren Berücksichtigung in wissenschaftlichen Diskursen dringend angezeigt (vgl. Wansing 2015). Dennoch sind Kinder – insbesondere mit Behinderungen – in empirischen Studien unterrepräsentiert (vgl. Butschi & Hedderich 2021; Gaupp, Schütz & Küppers 2022).

Der neuen Kindheitsforschung folgend ist das Kind seiner Lebenswelt nicht einfach ausgeliefert, sondern als soziale*r Akteur*in aktiv an der Reproduktion sozialer Wirklichkeit beteiligt (vgl. Honig 2009; Kluge 2021). Daher untersucht eine qualitative Längsschnittstudie im Projekt „Inklusion – Denken und Gestalten“ die Wahrnehmung von Heterogenität, die Einstellungen zu schulischer Inklusion und diesbezügliche Erfahrungen aus Sicht von Kindern sowie möglichen Zusammenhangstendenzen und Veränderungen im Zeitverlauf.

Daten aus problemzentrierten Interviews (vgl. Witzel 2000) mit 86 Kindern mit und ohne Behinderungen wurden mit der inhaltlich strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse (vgl. Kuckartz 2018) ausgewertet.

Aus den Einstellungen der Befragten lassen sich Chancen für eine inklusive Schule ausmachen, bspw. in Bezug auf die Rolle von Erfahrungen gemeinsamen Unterrichts oder die Bedeutung von Transparenz in didaktische Entscheidungen. Die Ergebnisse verweisen auf Aufmerksamkeit von Grundschulkindern für die sie umgebende Heterogenität und die individuellen Bedürfnisse ihrer Mitschüler*innen. Stigmatisierungsrisiken sowie (Re-)Produktion von Differenz im Sinne des doing difference (vgl. West & Fenstermaker 1995) durch unterrichtliche Praktiken und Interaktionen in der Schule werden dabei ebenso betrachtet wie das Spannungsfeld der (De-)Thematisierung von Differenz im Unterricht (vgl. Katzenbach 2015). Um sich diesen Herausforderungen anzunehmen, braucht es Sensibilität unter Lehrerenden für die Perspektive von Kindern, aber auch für die eigene Rolle bei der (Re-)Produktion von Differenz. Dabei lassen sich Bedarfe der Aus-, Fort- und Weiterbildung von Lehrer*innen für einen heterogenitätssensiblen Umgang mit Lernenden mit dem Ziel der Chancengerechtigkeit (vgl. Budde 2017) durch eine Orientierung an der Individualität der Schüler*innen (vgl. Arndt & Werning 2018) sowie anerkennenden Beziehungen (vgl. Kowalski 2022; Prengel 2019) als Merkmalen inklusiver Schulen ableiten. Erkenntnisse aus der Grundschulforschung, der Kindheitsforschung und den Diversity Studies können disziplinübergreifend dazu beitragen, grundschuldidaktische und -pädagogische Perspektiven weiterzuentwickeln.



15:35 - 16:10

Förderpläne als diagnostisches Instrument im inklusiven Unterricht? Grundschulpädagogik und -didaktik zwischen Individualisierung und Stigmatisierung

Sylvie Borel, Katja Adl-Amini, Julia Gasterstädt, Anna Kistner

TU Darmstadt, Deutschland

Die Grundschule ist die Schulform, in der die Umsetzung von Inklusion historisch am frühesten diskutiert wurde (Lütje-Klose, Miller & Ziegler, 2014) und die bis heute den höchsten Anteil an Schüler*innen mit sogenanntem sonderpädagogischen Förderbedarf (SPF) aufweist (Klemm, 2015). Im Zuge der Entwicklung und Implementation von Prinzipien inklusiver Grundschulpädagogik und Didaktik wurde Förderplänen als lernprozessbegleitendes Instrument eine zentrale Rolle zugeschrieben (Popp et al. 2023). In vielen Bundesländern wurde die Arbeit mit Förderplänen als präventive Maßnahme den Verfahren zur Feststellung von SPF vorangestellt (Gasterstädt et al. 2020). Kritisiert wird jedoch, dass Förderpläne in Bezug auf SPF eine (negative) Abweichung von einer Norm dokumentieren und somit die Legitimation von Exklusion ermöglichen (Arnold et al. 2008). Hier setzt der vorliegende Beitrag an und fokussiert das Instrument der Förderpläne im Kontext der Feststellungsverfahren von SPF ‚Lernen‘. Berichtet werden Ergebnisse aus dem Projekt InDiVers, das neun Feststellungsverfahren in der Grundschule in vier Bundesländern in einem qualitativen Mehrebenendesign im Anschluss an das Konzept institutioneller Diskriminierung (Gomolla & Radtke 2009) untersucht. Dabei wurden verschiedene Datentypen wie Dokumente (z. B. Verordnungen, Gutachten) sowie Interviews und Protokolle teilnehmender Beobachtung erhoben und analytisch integriert. Der methodologische Zugang der Situationsanalyse (Clarke et al. 2018) erlaubt es uns, Förderpläne als materielle Artefakte im Sinne von non-human agents in der komplexen Situation der Feststellungsverfahren zu verstehen und so die Handlungsmacht nicht nur menschlicher, sondern auch nicht-menschlicher Elemente in den Blick zu nehmen. Gefragt wird dabei, 1) welche Funktionen Förderpläne in der grundschulpädagogischen Praxis haben, 2) wie die Arbeit mit Förderplänen in die Feststellungsverfahren eingebettet ist, 3) wie dabei zwischen den Professionen und den am Verfahren beteiligten Akteur*innen vor dem Hintergrund je spezifischer Handlungslogiken und Normen die adressierten Kinder als förderbedürftig konstruiert werden, 4) nach der spezifischen Materialität von Förderplänen und 5) welche (nicht)intendierten Folgen auch im Sinne (pädagogischer) Handlungsspielräume damit assoziiert sind.



16:10 - 16:40

Überzeugungen frühpädagogischer Fachkräfte zu Schulfähigkeit bei Kindern mit Beeinträchtigungen

Daniel Then, Veronika Dumbacher, Sanna Pohlmann-Rother

Lehrstuhl für Grundschulpädagogik und Grundschuldidaktik Universität Würzburg, Deutschland

Schulfähigkeit gilt als zentrales Konzept der Übergangsforschung (Kammermeyer, 2014). Während in der Vergangenheit ein individuumszentriertes Verständnis vorherrschte, werden gegenwärtig – nach einem ökosystemischen Verständnis – zunehmend Umweltmerkmale als Schulfähigkeitskriterien diskutiert (Dockett & Perry, 2009). Dieser veränderte Blick auf Schulfähigkeit ist für die inklusive Gestaltung des Schuleintritts von besonderer Bedeutung (Pohlmann-Rother & Then, 2023). Vor allem wenn ein enges Inklusionsverständnis zugrunde gelegt (Lindmeier & Lütje-Klose, 2015) und Kinder mit Beeinträchtigungen fokussiert werden, wird dies evident. So zeigen Kinder mit Beeinträchtigungen im Übergang erhöhten Unterstützungsbedarf (Jiang et al., 2021), der eine Anpassung der Rahmenbedingungen verlangt. Inwieweit den Bedarfen eines Kindes im Übergang begegnet wird, hängt dabei entscheidend von den Überzeugungen der beteiligten AkteurInnen zu Schulfähigkeit ab (Puccioni, 2018). Als bedeutende AkteurInnen im inklusiven Übergang (Then & Pohlmann-Rother, 2023) spielen die pädagogischen Fachkräfte eine wichtige Rolle. Forschungsarbeiten, die die Überzeugungen pädagogischer Fachkräfte zur Schulfähigkeit bei Kindern mit Beeinträchtigungen fokussieren, sind bislang dennoch selten. Die wenigen vorliegende Befunde legen nahe, dass neben sozial-emotionalen Kompetenzen (Takriti et al., 2019) auch Umweltmerkmalen (z.B. familiäre Unterstützung) Bedeutung zugeschrieben wird (Chadwick & Kemp, 2002). Aktuelle Studien, welche die Überzeugungen frühpädagogischer Fachkräfte zu Schulfähigkeit von Kindern mit Beeinträchtigungen im deutschsprachigen Raum in den Blick nehmen, stehen hingegen aus. An dieser Stelle setzt die vorliegende Studie an. Im Zentrum steht die Frage, welche Kriterien pädagogische Fachkräfte berücksichtigen, um für Kinder mit Beeinträchtigungen den Besuch einer allgemeinen Grundschule in Betracht zu ziehen, und in welche Beziehung die Fachkräfte diese Kriterien setzen.

Die Daten wurden im Rahmen qualitativer, leitfadengestützter Interviews mit n=22 frühpädagogischen Fachkräften erhoben. Die Datenbasis bilden Strukturlegebilder (Scheele & Groeben, 1988), die im Rahmen der Interviews entstanden und die Schulfähigkeitskriterien sowie die Beziehungen widerspiegeln, in die die Fachkräfte die Kriterien setzen. Die Datenauswertung erfolgte mittels Verfahren der inhaltlich-strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse (Kuckartz & Rädiker, 2022) durch zwei unabhängige CodiererInnen (Cohen‘s Kap-pa=.84). Anschließend wurde ein holistischer Vergleich der Strukturbilder angestrengt. Da-bei wurden die Strukturbilder daraufhin eingeschätzt, 1) inwieweit die Fachkräfte die Kriterien in dem jeweiligen Strukturbild in eine Hierarchie (vom ‚wichtigsten‘ zum ‚unwichtigsten‘) legen und 2) inwieweit die Kriterien in den Strukturbildern nach spezifischen Gesichtspunkten (z.B. Inhaltsbereichen) angeordnet werden.

Im Ergebnis zeigt sich, dass die Fachkräfte v.a. sozial-emotionale (z.B. Sozialverhalten) und kognitive Kompetenzen (z.B. Konzentrationsfähigkeit) für den Grundschulbesuch eines Kindes mit Beeinträchtigungen als relevant ansehen. Unterschiede zwischen einzelnen Beeinträchtigungsarten (z.B. körperlich-motorischen und geistigen Beeinträchtigungen) werden dabei nur vereinzelt genannt. Darüber hinaus wird verbreitet strukturellen Aspekten der schulischen Umwelt (z.B. Klassengröße) Bedeutung zugeschrieben. Merkmale der Unterrichtsgestaltung (z.B. Individualisierung) stehen seltener im Fokus, obwohl die Unterrichtsgestaltung für gelingende schulische Inklusion zentral ist (Heimlich & Bjarsch, 2020). Der holistische Vergleich der Strukturbilder zeigt, dass nur wenige Fachkräfte die Kriterien linear vom ‚wichtigsten‘ zum ‚unwichtigsten‘ Kriterium anordnen. Der Großteil der Fachkräfte wählt stattdessen alternative Formen, z.B. thematische Cluster oder Kreisformen, um die Beziehung der Kriterien zu illustrieren. Die Befunde deuten somit auf eine komplexe Struktur der Überzeugungen zur Schulfähigkeit bei Kindern mit Beeinträchtigungen hin. Welche Implikationen sich hieraus für Bildungspraxis ergeben, wird im Vortrag diskutiert.